Ein System, das einst auf Disziplin gebaut war, trägt heute die Last politischer Unentschiedenheit.
Ban Phaeng, Thailand 03.06.2025 –
Ein alter Holztisch. Darauf ein Kalender, aufgeschlagen auf dem 3. Juni. Das Jahr ist 2025, die Hitze lastet wie eine Decke auf dem Mekong. Draußen zirpen Zikaden, drinnen sortiert der Denker seine Aufzeichnungen.
Er schlägt ein Buch auf. Darin eine Zahl: 980 Milliarden Euro. Keine Schulden, keine Rücklagen – sondern der Betrag, den Deutschlands Rentenkasse in über sechs Jahrzehnten für Aufgaben getragen hat, die nicht ihre sind. Man nennt sie versicherungsfremde Leistungen. Man nennt sie selten beim Namen.
Die stille Uminterpretation eines Systems
Deutschlands Rentensystem gilt international als effizient, zuverlässig, unaufgeregt. Es basiert auf einem einfachen Versprechen: Wer arbeitet, zahlt ein. Wer alt ist, erhält eine Rente. Doch dieses Versprechen wurde über Jahrzehnte behutsam erweitert – und damit verwässert.
Heute zahlt die Rentenkasse nicht nur Altersbezüge, sondern auch politische Absichtserklärungen:
Mütterrenten
Grundrenten
Frühverrentung
Pflegezeiten
DDR-Ausgleichszahlungen
Leistungen für Kriegsversehrte
Es sind nicht die Inhalte, die das System belasten – es ist ihre Finanzierungsquelle.
Kein Skandal. Aber eine stille Systemmutation.
Der britische Ökonom Nicholas Barr spricht in seinem Werk The Economics of the Welfare State davon, dass gute Sozialversicherungen wie Architekturen funktionieren: Sie tragen nur dann dauerhaft, wenn Lasten verteilt und sichtbar sind. Deutschland aber hat über Jahrzehnte den politischen Überbau auf die beitragsfinanzierte Struktur gelegt – ohne dabei den Grundriss zu überarbeiten.
Ein Skandal? Nein. Es gibt keine heimliche Umleitung, keine Veruntreuung. Aber es gibt etwas Tieferes: eine systemische Uminterpretation des Rentenvertrags, die nur deshalb nicht auffällt, weil sie in Zeitlupe geschieht.
Die Experten sprechen – der Staat schweigt
Der Münchner Altersforscher Prof. Axel Börsch-Supan fordert seit Jahren eine „funktionale Entkopplung“: Leistungen, die nicht durch Beiträge gedeckt sind, müssten durch Steuern finanziert werden – transparent, jährlich bilanziert. Doch was er erhält, sind pauschale Zuschüsse, deren Zweck im Haushaltsplan diffus bleibt.
Die US-amerikanische Ökonomin Olivia S. Mitchell geht weiter. Sie sagt, ein Rentensystem verliere seine Glaubwürdigkeit nicht durch Zahlen, sondern durch Intransparenz. Und das Vertrauen – jenes unsichtbare Kapital, auf dem jede Sozialversicherung basiert – zerbricht nicht in der Krise, sondern im Nebel.
Schweden hat längst getrennt, was Deutschland noch vermischt
Der schwedische Reformer Bo Könberg wusste: Man kann ein System nicht stabilisieren, indem man es ständig ausweitet. In den 1990er-Jahren führte er ein duales Modell ein: Alles, was beitragsbasiert ist, bleibt in der Rentenversicherung. Alles andere wandert in klar benannte Sozialfonds – sichtbar, kontrollierbar, demokratisch legitimiert.
Deutschland ging diesen Schritt nie. Es wählte stattdessen den Weg der politischen Durchreichung: Leistungen werden beschlossen – und die Rentenkasse zahlt.
Rücklage als Trostpflaster, Beitragssatz als Illusion
Mit rund 44,5 Milliarden Euro Rücklage und einem Beitragssatz von 18,6 % wirkt das System gesund. Doch diese Zahlen täuschen über das Prinzip hinweg. Es geht nicht um akute Defizite. Es geht um die Verwandlung eines Versicherungssystems in ein Schatteninstrument politischer Sozialgestaltung – ohne parlamentarische Tiefenprüfung, ohne Bürgeraufklärung.
Was nicht bilanziert wird, wird irgendwann gebrochen
Die Demokratie beginnt nicht bei der Meinungsfreiheit – sie beginnt bei der offenen Buchhaltung. Wenn ein Staat Leistungen über ein System laufen lässt, das dafür nicht geschaffen wurde, ohne dies offen zu deklarieren, verletzt er nicht das Gesetz, aber vielleicht den demokratischen Geist.
Vier Begriffe, die zurückführen könnten:
Nachhaltigkeit – nicht als Modewort, sondern als fiskalische Architektur
Vertrauen – nicht als Gefühl, sondern als Ergebnis von Klarheit
Transparenz – nicht in PR-Berichten, sondern in Finanzplänen
Effizienz – nicht nur in Kosten, sondern in politischer Wahrheit
Der Denker schaut auf den Fluss, der langsam, aber unaufhaltsam fließt. Er schließt das Buch.
„Die Rentenkasse wurde nie geplündert. Sie wurde nur benutzt – für vieles, was sie nie sein sollte.“
Und das ist – in einem Land, das sich selbst als sozial nennt – vielleicht die ehrlichste Krise von allen.
Der aktuelle Beitragssatz (18,6 %) steht einem theoretisch möglichen Beitragssatz von 15,6 % gegenüber – wenn versicherungsfremde Leistungen vollständig aus dem Bundeshaushalt finanziert würden.
▶️ Für Durchschnittsverdiener mit 3.500 € brutto bedeutet das eine monatliche Nettoersparnis von etwa 52 Euro.
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