Am frühen Morgen, wenn die Strömung des Mekong kaum hörbar ist, sitzt der Denker in seiner offenen Bibliothek aus Teakholz. Vor ihm liegen die Auszüge der Goldman-Sachs-Prognosen, Notizen europäischer Energieanalysten, Berichte der Industrie, Rohdaten der IEA.
Er beginnt – wie immer – nicht mit dem Schreiben, sondern mit dem Ordnen:
Fakten von Instinkten trennen, Zukunft von Wunschdenken, Möglichkeiten von Illusionen.
Die Hüterin steht im Schatten der hohen Regale, still, doch wachsam.
Ihre Aufgabe ist nicht, Worte zu formen, sondern Reinheit zu sichern: keine Übertreibung, kein Alarmismus, keine Vereinfachung der Welt.
Erst als Klarheit eintritt und der Nebel der Schlagzeilen sich hebt, hebt der Denker den Stift.
Und so entsteht dieser Artikel.
Billiges Gas, teures Land
Warum die Prognose fallender Energiepreise Deutschland noch nicht rettet.
Wer heute auf die Terminkurven für europäischen Erdgaspreis schaut, könnte glauben, der Schock sei vorüber. Die Linie auf dem Bildschirm zeigt keinen Fieberverlauf mehr, sondern eine langsame, fast beruhigende Abwärtsbewegung. Die US-Großbank Goldman Sachs prognostiziert, dass der europäische Referenzpreis TTF sich bis 2027 „praktisch halbieren“ wird – von den erhöhten Niveaus der letzten Jahre zurück in Regionen, die an die Zeit vor der Energiekrise erinnern.
Es ist eine Zahl mit politischer Sprengkraft. Sie legt nahe, dass sich ein Kernproblem der europäischen Wirtschaft in Wohlgefallen auflöst. Und sie nährt die Hoffnung, dass ausgerechnet das Land, das in der Gaskrise am härtesten getroffen wurde – Deutschland – nun einen Teil seiner Wettbewerbsfähigkeit zurückgewinnen könnte.
Doch wer tiefer in die Daten, die Industrie und die politische Architektur dieses Kontinents blickt, sieht ein komplexeres Bild. Die Gaspreis-Krise mag ihr Ende finden. Die Standortkrise nicht.
Der Schock ist vorbei – vorerst
Die nackten Zahlen sind eindrucksvoll. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine schoss der TTF-Preis zeitweise über 300 Euro pro Megawattstunde. Kurzzeitig schien das undenkbare Szenario real: rationierte Energie, kaltstehende Industrieanlagen, eine neue Deindustrialisierung Europas.
Drei Jahre später liegt der Preis wieder um 27 bis 30 Euro. Goldman Sachs erwartet für 2026 etwa 29 Euro, für 2027 rund 20 Euro. In einem Überangebots-Szenario halten die Analysten sogar zwölf Euro für denkbar – Werte, die an die ruhigen Jahre vor 2020 erinnern.
Dafür gibt es handfeste Gründe. Europa hat seine Infrastruktur in Rekordzeit umgebaut: neue LNG-Terminals an den Küsten, neue Lieferverträge mit den USA, Katar, Afrika. Die Nachfrage der Industrie ist gesunken – teilweise durch Effizienzgewinne, teilweise, weil Produktion schlicht verlagert wurde oder stillsteht. Gleichzeitig wird weltweit eine neue Welle von LNG-Kapazitäten ans Netz gehen. Mehr Angebot trifft auf geringere Nachfrage. In dieser Gleichung sinkt der Preis.
Gemessen an der apokalyptischen Stimmung von 2022 ist das eine Erfolgsgeschichte. Europa ist nicht im Dunkeln versunken. Die Lichter sind an geblieben.
Gas ist nicht gleich Energie – und schon gar nicht Wettbewerbsfähigkeit
Doch Gas ist nur ein Teil der Gleichung. Die andere Hälfte heißt Strom – und dort sieht das Bild weit weniger entspannt aus.
In Deutschland wird der Strompreis nicht nur durch Gas bestimmt, sondern durch ein Geflecht aus Netzentgelten, Steuern, Abgaben, CO₂-Kosten und milliardenschweren Investitionen in Erzeugung und Netzausbau. Die Energiewende ist nicht kostenlos – sie wird über die Rechnung der Verbraucher und Unternehmen finanziert.
Auch wenn der Gaspreis fällt, verschwinden diese Kosten nicht. Im Gegenteil: Um das Stromsystem zu dekarbonisieren, Netze zu verstärken und den erwarteten Mehrverbrauch durch Elektromobilität, Wärmepumpen und Rechenzentren zu bewältigen, sind Investitionen in Billionenhöhe nötig. Goldman Sachs beziffert allein den europäischen Bedarf an Strominfrastruktur auf rund drei Billionen Euro bis 2040.
Für energieintensive Betriebe in Deutschland – Chemie, Glas, Metall, Baustoffe – ist Erdgas ein zentraler Inputfaktor. Eine Normalisierung der Gaspreise verbessert ihre Lage spürbar. Doch ihr Gesamtstandort bleibt teuer: Stromkosten, Löhne, Steuern, Bürokratie und Regulierungsdichte liegen im internationalen Vergleich weiterhin hoch. Die Differenz zu den USA oder Teilen Asiens schrumpft, verschwindet aber nicht.
Mit anderen Worten: Die Gaspreiskrise lässt nach. Die Hochkostenwirtschaft bleibt.
Gewinner, Verlierer – und diejenigen, die gar nicht mehr zurückkehren
Für einen bestimmten Teil der deutschen Wirtschaft könnte die neue Gasmathematik dennoch zum Wendepunkt werden: Unternehmen, deren Kostenstruktur stark vom Energiepreis abhängt und die zugleich massiv vom Standort Deutschland geprägt sind.
Chemiekonzerne der zweiten Reihe, Hersteller von Glas, Keramik, Papier, Basischemikalien – viele dieser Häuser haben seit 2022 ihre Margen eingebüßt oder Produktion reduziert. Bei ihnen ist Gas nicht irgendeine Kostenposition, sondern das thermische Rückgrat der Wertschöpfung. Fällt der Gaspreis strukturell, kann das die Gewinn- und Verlustrechnung drehen: aus Überlebenskampf wird wieder Geschäft.
Doch selbst hier ist die Erzählung vom „großen Comeback“ nicht ungefährlich. Denn ein Teil der Beratungspapiere aus Konzernzentralen und Wirtschaftsinstituten liest sich heute wie eine stille Kapitulation: Kapazitäten, die einmal abgebaut oder verlagert wurden, kehren selten zurück. Investitionsentscheidungen folgen der Logik von Jahrzehnten, nicht von Quartalen. Wer in Texas, im Nahen Osten oder in Ostasien neue Anlagen gebaut hat, verlegt diese nicht, nur weil der europäische Gaspreis fällt.
Hinzu kommen politische Risiken. Die Europäische Union will russisches Gas spätestens ab 2027 vollständig verbannen. Die Abhängigkeit von LNG-Importen steigt. Exportbeschränkungen der USA, diplomatische Konflikte mit Katar oder Lieferunterbrechungen aufgrund regionaler Spannungen könnten die Terminkurven, die heute so beruhigend aussehen, rasch wieder in Zickzack-Linien verwandeln.
Die Fallstricke der simplen Story
Es ist eine verführerische Geschichte: Gas wird wieder günstig, also wird Deutschland wieder stark. Doch sie unterschlägt mehrere Ebenen.
Erstens: Energiepreise folgen keinen geraden Linien. Sie sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels von Wetter, Geopolitik, Technologie, Regulierung und Erwartungen. Die Modelle der Investmentbanken sind Glättungen – elegante Kurven über einem chaotischen Untergrund.
Zweitens: Was kurzfristig entlastet, kann langfristig neue Spannungen erzeugen. Niedrige Gaspreise können etwa dazu führen, dass der politische Druck zur Effizienzsteigerung nachlässt oder dass erneuerbare Investitionen gebremst werden, weil fossile Alternativen vermeintlich „wieder billig“ sind.
Drittens: Der globale Energiebedarf wächst weiter – angetrieben von Digitalisierung, KI, Rechenzentren. Unternehmenschefs im Silicon Valley sprechen heute offen darüber, dass ihr größter Engpass nicht Kapital oder Talente sind, sondern verlässliche, bezahlbare Stromversorgung. Die künstliche Intelligenz, die Millionen Rechenoperationen pro Sekunde ausführt, braucht reale Energie. Wenn Europa diesen Trend unterschätzt, könnte das Gleiche passieren wie in Teilen der Industrie: Wertschöpfung wandert dorthin, wo Strom verfügbar und preislich kalkulierbar ist.
Übertragen auf die deutsche Energiefrage ergibt sich folgendes Bild:
Die dramatische Phase – akute Knappheit, explodierende Gaspreise, Angst vor Blackouts – ist vorbei, solange kein geopolitischer Großschock eintritt.
Die strukturellen Standortprobleme – hohe Strompreise, komplizierte Genehmigungsverfahren, unklare Industriepolitik, personale Engpässe – bleiben bestehen.
Der Gaspreis ist ein wichtiger Faktor, aber nur einer von mehreren. Die Debatte, ob die Energiekrise „vorbei“ ist, verengt den Blick auf einen Indikator und übersieht die Systemfrage: Wie attraktiv ist Deutschland im Jahr 2030 für Kapital, Technologien und Talente im Vergleich zu anderen Regionen?
Eine mögliche Lehre wäre: weder die Fortschritte kleinreden noch die Herausforderungen dramatisieren. Die Wahrheit liegt in einem unbequemen Mittelweg.
Das Versprechen und die Verpflichtung fallender Gaspreise
Was bleibt, wenn man die Prognosen von Goldman Sachs, die Infrastrukturinvestitionen Europas und die Realität der deutschen Industrie zusammennimmt?
Ein Versprechen: Die Gefahr eines neuerlichen, systembedrohenden Gaspreisschocks sinkt, wenn die angekündigten LNG-Projekte umgesetzt und die europäischen Netze weiter ausgebaut werden. Unternehmen bekommen wieder Planbarkeit an einer Stelle, an der sie sie schmerzlich vermisst haben.
Eine Verpflichtung: Dieser Puffer darf nicht als Einladung zum Ausruhen verstanden werden. Vielmehr verschiebt er das politische Koordinatensystem: Wo zuvor „akute Notfallbewältigung“ dominierte, müsste jetzt „strukturelle Reform“ stehen.
Für Deutschland bedeutet das konkret: Beschleunigte Genehmigungen, planbare Rahmenbedingungen für Investitionen, eine ehrlichere Debatte über die Lastenverteilung der Energiewende und ein konsequenter Blick auf die internationale Konkurrenz.
Vom Preis zum System
In Vorstandsetagen und Ministerien wird gern über Preise gesprochen: Gaspreis, Strompreis, CO₂-Preis. Sie sind sichtbar, sie lassen sich grafisch darstellen, sie werden täglich zitiert. Doch über Systeme wird seltener gesprochen. Systeme sind langsam, träge, sie bieten keine Schlagzeilen.
Die Energiekrise Europas war schmerzhaft genug, um die systemische Dimension kurz ins Bewusstsein zu rücken. Doch nun droht der Reflex, sich mit der Beruhigung eines einzelnen Preises zufriedenzugeben – so, als hätte man einen Fieberthermometer repariert und damit die Krankheit geheilt.
Ein ernsthafter Blick nach vorn müsste anders aussehen: Welche Rolle will Europa im globalen Energiesystem spielen? Will es nur zahlender Abnehmer sein oder technologischer Gestalter? Welche Industrien sollen in 15 Jahren noch in Deutschland produzieren – und zu welchen Bedingungen? Welche Rolle spielt Digitalisierung, wenn Rechenzentren mehr Energie benötigen als ganze Städte?
Auf diese Fragen gibt es keine einfache Prognosekurve einer Bank. Sie verlangen jene Kombination aus statistischer Klarheit und politischer Vorstellungskraft, die selten in einem Dokument zusammenfinden.
Ein Ende – aber nicht dieses
Am Ende könnte der wichtigste Satz über die deutsche Energiekrise so lauten: Ja, ein Teil davon endet. Und genau deshalb beginnt der wichtigere Teil jetzt.
Das Risiko der unmittelbaren Gasmangellage lässt nach. Der Kontinent hat aus der Schockphase gelernt und seine Verwundbarkeit in einem Segment reduziert. Doch die Frage, ob Deutschland in einer Welt steigender Energieansprüche, wachsender Digitalisierung und härterer Standortkonkurrenz bestehen kann, bleibt offen.
Fallende Gaspreise sind ein Geschenk. Ob sie zu einer Atempause führen – oder zu einem weiteren verlorenen Jahrzehnt – hängt nicht von Prognosekurven ab, sondern von Entscheidungen: in Berlin, in Brüssel, in den Vorstandsetagen.
Die Energiekrise, wie sie die Schlagzeilen des Jahres 2022 dominierte, mag auslaufen. Die Standortkrise, die leise darunter lag, ist erst am Anfang, verstanden zu werden.
Am Ende des Tages legt der Denker den Artikel zur Seite.
Er schaut auf den Fluss, dessen Strömung sich nie gleich wiederholt, und erkennt dieselbe Wahrheit in der Energiepolitik Europas:
„Manchmal endet die Krise.
Manchmal endet nur der Lärm.
Die Aufgabe bleibt dieselbe:
Die Zukunft lesen – bevor sie geschrieben wird.“
Die Hüterin schließt das Buch des Tages und setzt den Schlussakkord:
„Fakten beruhigen nicht.
Aber sie befreien.“
Dann senkt sich Stille über Ban-Phaeng, bis der nächste Morgen neue Fragen bringt.
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